Siena Root - Different realities


(2009, Transubstans, Schweden, 51 Min)
01. WE
- We are them
- In the desert
- Over the mountains
- As we return
02. THE ROAD TO AGARTHA (RAAGMALA)
- Bairabi
- Bhairavi
- Ahir Bhairav
- Bhimpalasi
- Shree
- Jog

Die soundsovielte SIENA ROOT Scheibe und für mich bisher das beste von dieser Kapelle gehörte Material. Transubstans Records als Auffangbecken für das einstige Nasoni Records Zugpferd ist ein guter Nährboden. Zwei Longtracks von je knapp fünfundzwanzigeinhalb Minuten Länge stehen auf dem Album, wieder unterteilt in einmal vier und einmal sechs kürzere Abschnitte, die auf der CD einzeln anwählbar sind, aber nur als Ganzes wirklich Sinn machen. Es fängt besinnlich an mit "We are them", einem dahinschwebenden Rocker im besten 1970er Stil, der viele ruhige, sentimentale Momente mit nachdenklicher Grundstimmung in sich birgt, dazwischen einmal in tänzelnde Rockpassagen abdriftet, die immer nur recht kurz währen. Hier ist die sanftere Seite der Band stärker ausgeprägt, womit ich als 70er Maniac dennoch gut leben kann. "In the desert" vereint als Instrumentalzwischenspiel eine mediterrane folkige Melodieführung akustischer Gitarren mit nordafrikanischen Zutaten, betörenden Flöten unter anderem, bevor es dann ab zur Wanderung "Over the mountains" geht, einem wilden, verspielten Heavyrock mit jaulender Gitarre, der schnell in groovigen Gefilden mit souligem E Piano über entspanntem Rhythmusteppich aus Bass und Schlagzeug mündet, aber immer wieder von der Gitarre einen verpuhlt bekommt. Ein An - und Abschwellen, ein spaciges Brummen, als wären wir mitten auf einem alten PINK FLOYD - oder HAWKWIND Album gelandet, nun stampft der harte Rock schön wütend wie ein Zyklop umher, dazu gibt es wortlose Chorgesänge mit Falsettstimme, welche die frühen URIAH HEEP wieder lebendig machen. Oh ja, SIENA ROOT bestreiten gar nicht, eine zweihundertprozentige Retroband zu sein, aber trotz vieler Zitate haben sie Charisma und das Gespür für emotionsgeladene Songs. Der Gitarrist bearbeitet hier seine Sechssaitige (wofür mehr Saiten und warum tiefer stimmen? Hinfort mit dem modernen Plunder...) mit absoluter Besessenheit und spielt doch stets im Dienste der Komposition. Eine Passage folgt, in der das Schlagzeug einen straighten Teppich klopft, über dem zuweilen die Gitarre zwei Akkorde rausrotzt und man ist zurück im elegant dahintänzelnden 70s Hardrock, der durch die analoge Produktion auch noch fucking awesome, eben echt original klingt. "As we return" ist dann die Rückkehr zur Nachdenklichkeit, zu graubunten, melancholischen Herbstträumen, zu Spaziergängen unter großen Bäumen, die sich langsam auf den Winter einstellen. Immer wieder langen Hardrockeruptionen zwischen diese verträumten Melodien, dann wird dieser Abschnitt der Komposition "WE" intensiver, wenn auch nicht derber, aber intensiver mit wuchtigen Orgelläufen. Aber wie das so mit tiefer Melancholie ist, Du kannst für einen Moment aus ihrem Griff ausbrechen, aber sie holt Dich stets wieder zu sich zurück. Der Song ist nicht hoffnungslos, nein, nein, nur eben nachdenklich, nicht schwarz, sondern grau mit leichten Tupfern von braun und rot. Man ist noch ein wenig davon benommen, da taucht "Bairabi" am Horizont auf, ein doomiger, erhabener Lauf mit einer beschwörend dunklen, sehr mystischen Melodie und spaciger Leadgitarre, die an den Kulturkreis des indischen Subkontinents gemahnt. Acidrawk, yeah, aber irgendwie sehr düster und bedrohlich. Als hätte die indische Göttin Shiva Dich bereits mit ihren vielen Armen im spirituellen Würgegriff und würde Dich der Zerstörung zuführen, deren Gebieterin sie ist. Das akustisch - folkige, indisch - mystische "Bhairavi" ist dann die Schöpfung im Garten der Götter, basiert auf Sitar, Tablas und Flöte, spielt eine zauberhafte Melodie, wieder und wieder. Es hypnotisiert Dich förmlich. Dann wird es intensiver, eine akustische Gitarre setzt ein, es wird wilder, aber auch wieder europäischer mit merkwürdigem Getröte als Rhythmus, verschiedenen, von mir nicht zu identifizierenden Blas - und Streichinstrumenten. Es hat einen Hauch von Zigeunermagie, von der Zauberkraft des Balkans und des europäischen Ostens, wo Orient und Oxident aufeinander treffen. SIENA ROOT wechseln hier die Kulturen so schnell und so geschickt, dass der Hörer sich nurmehr in Ekstase windet und lustvoll die Kontrolle über seine Sinne verliert, aber nicht merkt, dass er bereits im siebten Song "Ahir Bhairav" gelandet ist. Und ebenso schnell und ohne Absetzen geht es weiter in "Bhimpalasi" hinein. SIENA ROOT vermengen hier folkloristische Elemente soviele verschiedener Kulturen, sie schaffen wahre World Music mit "The Road to Agartha". Es geht über eine Brücke aus Percussions weiter zu "Shree", der wieder orientalische Züge trägt und zurück nach Südostasien führt. Diese lange Suite kappt dem Hörer alle Hemmungen, lässt ihn in einem Emotionssud quasi ertrinken, der aus Leidenschaft, wilder Lust am Leben und freiester, allerdings auch reinster Liebe besteht. Hochprozentiger Stoff zum "high" werden. "Shree" ist musikalisch die reinste Ekstase, wild und verdammt gut auf den akustischen Instrumenten gespielt. Rockiger wird es mit "Jog", dem letzten Abschnitt, bei dem Acidrock so langsam die orientalische Folklore ersetzt und dem Hörer kurz vor dem physischen Zusammenbruch mit brodelnden Soli über entspannten Läufen die Chance gibt, wieder vom Gipfel der Lust abzusteigen und seine Sinne in klaren, spirituellen Quellen abzukühlen. Dieser zweite Longtrack ist in der Tat Sex in seiner reinsten Form, ohne Schranken, ohne Gedanken, ohne Zweifel, er ist ein reines Loslassen, pure Magie. Auch hier finden sich wieder Hinweise auf die Wurzeln der Band, auf CREAM, LED ZEPPELIN, George Harrison, BLACK SABBATH, dazu reihenweise schwedische und deutsche Acidrocker der frühen 70er wie AMON DÜÜL II, NOVEMBER, BABY GRANDMOTHERS, MECKI MARK MEN und solche Obskuritäten. Fuck, es ist einerseits eine herrliche Rückblende in musikalisch glücklichere Zeiten, aber dann ist es auch ein Beweis, dass man als junge Band noch so pure, lusterfüllte Musik spielen kann, die frei und entspannt ist. Es braucht wohl seine Zeit, bis der Hörer die volle Farbenpracht dieses Albums erfasst hat, aber wenn sie ihn letztendlich durchdringt, gibt es für ihn kein Zurück mehr. Und so wird "Jog" zum Ende hin erneut feuriger und wilder, mit kleinen Einblendungen von indischer Ragamusik und vielen Sitarleads über treibendem Hardrock. Sitar statt Stratocaster, wow, welch glorreiche Idee. Ich hab keine Ahnung, was dem hier noch folgen wird, aber ich kann sagen, dass 2009 voll ist mit Musik, die einen total aus den Schuhen haut, weil wieder Kreativität und Inspiration auf dem sehr physischen, körperbetonten Fundament sitzen und man sich wieder echter Musikalität hingibt, statt sich im Studio zu Tode sterilisierte Allerweltskompositionen vom Produzenten zurechtbasteln zu lassen. Ganz große Kunst und doch ein kommerzielles Potential sondergleichen, das müssen Transubstans nur ausnutzen, diese Musik dem jungen, von Poprock und Nu Metal verdorbenen Hörer in die Seele meisseln.
97/100

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